Theseus, der König Griechenlands, ist
verschollen, er gilt als tot. Der Staat ist ohne Führung, der Thron verwaist.
Wer hat Anspruch auf die Macht? Seine Frau Phädra und in Folge später ihr
gemeinsamer noch minderjähriger Sohn? Oder Hippolytos, von Theseus innig
geliebter erster Sohn aus einer früheren Ehe mit einer Amazone? Jetzt müsste
der Machtkampf entbrennen, doch in Phädra brennt ein ganz anderes Feuer, viel
größer, viel rasender, das sie vollkommen zu verzehren droht. Sie, die
griechische Königin, die Stiefmutter, sie liebt den jungen Hippolytos als Mann.
So lange hat sie diese Liebe schmerzvoll verdrängt. Als jedoch die Nachricht
vom Tode des Königs sie erreicht, bricht ihre mühsam erworbene
Selbstbeherrschung zusammen und sie bekennt dem jungen Mann ihre wahren
Gefühle. Dieser aber ist entsetzt und weist sie irritiert zurück. Hippolytos,
der nie zuvor geliebt hat, liebt eine andere Frau – verbotenerweise, denn
diese Frau, Prinzessin Arikia, ist eine Staatsgefangene, eine Todfeindin seines
Vaters. Ihr will er den Thron – historisch begründet, so behauptet er –
überlassen.
Da kommt die überraschende Nachricht: Theseus
lebt! Doch nicht Jubel empfängt ihn, sondern Erschrecken und Verstummen. Vieles
ist im Palast in der Annahme seines Todes geschehen, was ihm verborgen werden
soll. Was sich ihm zeigt, sind Intrige, falsche Verdächtigungen, es überkommt
ihn unbändiger Zorn... das Unglück ist nicht mehr aufzuhalten.
Und Theseus spricht: „Ich hatte zu Phädra
unbegrenztes Vertrauen. Ich hatte sie von Monat zu Monat an Anmut zunehmen
sehen. Sie atmete nur Tugend. Da ich sie dem verderblichen Einfluss ihrer
Familie so jung entzogen hatte, ahnte ich nicht, dass sie deren Gährungsstoffe
alle mit sich nahm. Offenbar hatte sie viel von ihrer Mutter, und als sie
später zur Entschuldigung anführte, sie sei unverantwortlich und vorbestimmt,
musste man zugeben, dass daran etwas Wahres war. (. . .) Der Sohn, den ich von
der Amazone gehabt hatte, und den ich vor allen anderen liebte, betete die
Jägerin Artemis an. Er war keusch wie sie; so keusch wie ich in seinem Alter
zuchtlos gewesen war. Er durchstreifte Wald und Forst, nackt unter dem Mond;
mied den Hof, die Feste, vor allem die Gesellschaft der Frauen, und gefiel sich
nur unter seinen Spürhunden, mit denen er die Flucht des Wildes bis auf
Berggipfel und in geschützte Täler verfolgte. Oft ritt er auch störrische
Pferde zu und ließ sie auf dem sandigen Strand laufen, um mit ihnen ins Meer zu
stürzen.
Wie liebte ich ihn so! Schön, stolz, widerspenstig;
nicht etwa gegen mich, den er verehrte, noch gegen die Gesetze; wohl aber gegen
die Konventionen, die die Bejahungen einschränken und die männliche Tapferkeit
ermüden. Ihn wollte ich zum Erben. Ich würde ruhig einschlafen können, wenn ich
die Zügel des Staates in seine reinen Hände gelegt hätte; denn für Drohungen
wie für Schmeichelei war er unzugänglich, das wußte ich.
Daß Phädra sich in ihn verlieben könnte, auf
diesen Gedanken kam ich erst, als es zu spät war. Ich hätte es ahnen sollen,
denn er war mir ähnlich; ich will sagen ähnlich dem, der ich in seinen Jahren
war. Nun fing ich schon an zu altern, und Phädra blieb ungewöhnlich jung. Sie
liebte mich vielleicht noch, aber wie man einen Vater liebt. Ein solcher
Altersunterschied zwischen Gatten ist nicht gut, das sollte ich zu meinem
Schaden erfahren. Was ich Phädra nicht verzeihen kann, ist denn auch nicht
diese Leidenschaft, die schließlich ziemlich natürlich war, obwohl sie den
Inzest streifte – sondern daß sie einsah, sie würde ihr nicht fröhnen können,
und nun meinen Hippolytos verleumdete, dem sie die unreine Flamme zuschrieb,
die sie selbst verzehrte. Als Vater verblendet, als Gatte allzu
vertrauensselig, glaubte ich ihr. Ausgerechnet dieses eine Mal verließ ich mich
auf die Beteuerung einer Frau! Auf meinen unschuldigen Sohn rief ich die Rache
des Gottes herab. Und mein Gebet wurde erhört! Wenn die Menschen sich an die
Götter wenden, wissen sie nicht, daß die Götter sie meist zu ihrem Unglück
erhören (...)“
aus: Andre
Gide „Theseus“, Übersetzung: Ernst Robert Curtius
"Corinna Kirchhoffs Triumph." F.A.Z.
"Corinna Kirchhoff, jeder Zoll eine souveräne Bühnenkönigin. Nur die Allergrößten leiden so herrlich." Theater Heute
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